Kapitel 20
SONTAG, 3. FEBRUAR 1902 – 20 UHR
Francesca stand regungslos mit dem Rücken zur Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Georgette packte Anthonys Arm. »Aber das ist doch nicht ihre Schuld! Sie versucht doch bloß, uns zu helfen!«, rief sie. »Den Teufel tut sie! Musstest du ihr denn von dieser dämlichen Erpressung erzählen?«, fragte Anthony grimmig.
»Genau, dämlich war das! Und Paul hatte es wahrlich nicht verdient!«, rief Georgette.
Francesca machte einen winzigen Schritt rückwärts. »Vergiss Paul, der ist nun mal tot. Und was jetzt? Sie weiß von der Erpressung, und das lässt mich – und dich übrigens auch, Georgette – verdammt schlecht aussehen. Das macht uns doch so was von verdächtig, kapierst du denn das nicht?« Anthony verdrehte die Augen.
»Aber sie verdächtigen mich doch ohnehin schon.«
»Das stimmt allerdings. Und das hier ist jetzt der letzte Nagel zu deinem Sarg. Was zum Teufel sollen wir mit der da anstellen?« Er wies mit dem Daumen auf Francesca.
Georgette hörte auf zu weinen. »Wir schicken sie nach Hause.«
»Sie wird aber nicht nach Hause gehen. Sie wird schnurstracks zu Bragg marschieren und alles ausplaudern, verdammt noch mal!« Anthony warf Francesca einen zornigen Blick zu.
Sie hatte es unterdessen geschafft, noch ein paar Zentimeter weiter zurückzuweichen, und war sich sicher, dass sie von dieser Stelle aus den Türknauf erreichen könnte, wenn sie sich umdrehte. Wenn sie ihr Gedächtnis nicht täuschte, hatte Georgette weder die Sicherheitskette vorgelegt noch abgeschlossen, nachdem Francesca und Anthony das Zimmer betreten hatten.
Anthony seufzte. »Ich muss nachdenken.« Er starrte mit finsterem Blick auf seine abgewetzten braunen Schuhe.
In diesem Augenblick fuhr Francesca herum und riss die Tür auf.
»Verdammt!«, schrie Anthony und machte einen Satz auf sie zu.
Francesca spürte, wie seine Hand ihren Arm streifte, als sie aus dem Raum stürzte. Mit Anthony auf den Fersen eilte sie den schmalen Flur entlang.
Auf der Treppe drohte ihr ein Mann, der gerade die Stufen heraufkam, den Weg zu versperren. »Aus dem Weg!«, schrie Francesca verzweifelt. Jetzt würde Anthony sie zu fassen bekommen!
Sie stieß mit dem Mann zusammen, und er packte sie an den Schultern.
»Lassen Sie mich los!«, schrie Francesca, da sie sich bewusst war, dass Anthony direkt auf dem Treppenabsatz hinter ihr war und sie jeden Moment ergreifen würde. Dann blickte sie in die dunklen, vertrauten Augen des Mannes, der sie noch immer an den Schultern festhielt.
»Ich bin es, Francesca!«, rief Calder Hart.
Sie starrte ihn fassungslos an.
»Polizei!«, rief in diesem Moment jemand von unten, und zugleich hörte man eine Vielzahl eiliger, trampelnder Schritte. Eine Pfeife ertönte.
»Scheiße!«, brüllte Anthony und machte auf dem Absatz kehrt. Hart drückte sich mit Francesca gegen die Wand, als ein halbes Dutzend Polizisten von Bragg angeführt die Treppe hinaufstürmten. Im Vorbeieilen warf Bragg Francesca einen Blick zu, blieb aber nicht stehen.
Anthony war zu einem Fenster gerannt, das sich am Ende des Flures auf der ersten Etage befand, und riss es auf. Offenbar hatte er die Absicht hinauszuspringen, obwohl er riskierte, sich dabei die Beine – oder den Hals – zu brechen. Bragg packte ihn am Kragen.
Anthony richtete sich umgehend auf und streckte beide Hände in die Luft. »Ich gebe auf«, sagte er.
»Das ist auch gut so«, gab Bragg zurück und drückte ihn mit dem Gesicht gegen die Wand. »Durchsuchen!«, befahl er seinen Männern. »Und dann legt ihm Handschellen an, verfrachtet ihn ins Fuhrwerk und buchtet ihn wegen Mordverdachts ein.«
Francesca ließ sich erleichtert gegen die Wand sinken. Erst da bemerkte sie, dass Hart ihr den Arm um die Taille gelegt hatte und sie festhielt. Sie löste ihren Blick von Bragg und Anthony und sah Hart an. Er schaute forschend in ihr Gesicht.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie nickte. Doch dann spürte sie, wie ihre Knie nachgaben. Sofort verstärkte sich sein Griff. Er zog sie hoch und drückte sie an seine Seite.
»Woher wussten Sie ...?«, hob sie an und verstummte.
»Ich bin Ihnen gefolgt.« Er schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Als ich Ihr Haus verließ, war ich überaus misstrauisch. Und neugierig, das muss ich zugeben. Als ich Sie mit diesem Mann wegfahren sah, wurde ich – nun ja, sagen wir einmal, noch ein wenig neugieriger. Als Sie dann das Hotel mit ihm betraten, habe ich bei dem Kerl vorn am Empfang seinen Namen erfahren.« Er schüttelte den Kopf. »Francesca, Randall hat mir an jenem Abend, als wir uns im Republican Club trafen, erzählt, dass er erpresst wurde, und ich habe natürlich keine Ruhe gegeben, bis er mir Anthonys Namen genannt hat. Als ich nun erfuhr, mit wem Sie da zusammen waren, bin ich sofort um die Ecke zum örtlichen Polizeirevier gelaufen und habe eine Nachricht an Bragg telegrafieren lassen.« Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das seine Augen zum Strahlen brachte. »Der Zeitpunkt war ziemlich gut gewählt, nicht wahr?«
Sie nickte. »Ich danke Ihnen«, sagte sie. Doch dann erstarrte sie.
Bragg war neben sie getreten und schaute sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen fragend an. Sein Blick schien nicht nur ihre Augen zu durchbohren, sondern bis in die Tiefen ihres Herzens und ihrer Seele vorzudringen. Ihr Herz vollführte einen Hüpfer und begann wie wild zu pochen. Francesca wusste, dass sie diesen Mann niemals würde hassen können.
Während ihr Blick über seine Züge glitt, wusste sie, dass sie für alle Zeiten mit ihm verbunden sein würde.
»Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung?«, fragte er leise, und ihr war klar, dass er damit nicht nur auf ihre körperliche Verfassung anspielte. Schließlich hatten sie sich nach seiner niederschmetternden Enthüllung nicht mehr gesprochen. Sie brachte mit Mühe ein Nicken zustande.
»Ich gebe mir Mühe ... Es ist nicht leicht.«
Er schien ihre Hand ergreifen zu wollen – eine Geste, die ihr bereits vertraut war –, doch dann zögerte er, und ihre Blicke senkten sich erneut ineinander. Wie schon so oft erkannte sie seine Stärke und Willenskraft in seinen Augen. Aber sie erkannte auch die Resignation. Bragg ließ seine Hand sinken, ohne Francesca zu berühren. »Ich muss mich mit Ihnen unterhalten, Francesca. Rein beruflich, natürlich.«
Francesca nickte. Wieso bloß tat es bloß immer noch so weh? Würde dieser Schmerz denn niemals vergehen?
»Sie hat viel mitgemacht und ist müde. Lass sie doch nach Hause gehen, damit sie sich ausruhen kann«, sagte Hart grimmig. »Und dann würde ich vorschlagen, dass du dich so weit wie möglich von ihr fern hältst.«
Francesca bemerkte, dass er seinen Arm immer noch auf eine überaus vertraute Weise um sie geschlungen hatte, und entwand sich seinem Griff. »Nein, nein, schon gut«, sagte sie. »Ich kann mit Ihnen ins Präsidium kommen.«
Ein Muskel in Braggs Wange zuckte. »Mein Bruder hat Recht. Calder, würde es dir etwas ausmachen, Miss Cahill nach Hause zu bringen?«
Hart lächelte. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
Francesca starrte Bragg an. Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte hier bleiben, auf dieser schmalen Treppe, mit ihm. Und wäre Hart nicht gewesen, hätte sie sich möglicherweise nicht beherrschen können und die Hand ausgestreckt, um Braggs Wange zu berühren. Er machte einen so bekümmerten Eindruck.
Er sah sie mit einem schmerzlichen Ausdruck in den Augen an. »Dürfte ich morgen früh vorbeikommen?«
Sie nickte. »Aber gewiss, Bragg. Sie müssen doch nicht erst fragen.«
»Würde Ihnen neun Uhr passen?« Sein Blick wanderte über ihre Züge und verharrte auf ihrem Mund.
Hart gab einen angewiderten Laut von sich. »Ich werde unten warten. Ich kann das nicht mit ansehen«, verkündete er.
Francesca brachte kein Wort mehr heraus. Sie fühlte sich plötzlich völlig erschöpft.
In diesem Augenblick kamen die Polizisten, die Anthony abführten, an ihr vorüber, und Francesca trat auf den Treppenabsatz, um den Weg für sie frei zu machen. Anthony sah sie an. »Ich war's nicht«, sagte er.
Francesca blickte zur Seite und schwieg.
Als Nächste wurde Georgette von einem Beamten nach unten geführt.
Sie sah Francesca mit Tränen in den Augen an. »Sie müssen uns helfen«, sagte sie. »Wir sind unschuldig.«
Francesca schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, begegnete sie Braggs Blick.
»Sie haben heute gute Arbeit geleistet«, sagte er leise. »Sie sind eine gute Detektivin, Francesca.«
Ihr Herz begann zu jubilieren. »Danke«, flüsterte sie. Sie sehnte sich so sehr danach, seine Hand zu ergreifen.
Er schien noch etwas sagen zu wollen, zögerte aber zunächst, ehe er schließlich fortfuhr: »Wir sehen uns dann morgen. Um neun. «
»Morgen«, wiederholte Francesca. Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange lief, und wandte erschrocken den Kopf zur Seite.
Er berührte ihren Arm. »Bitte weinen Sie doch nicht! Es bringt mich noch um, wenn ich sehe, wie Sie leiden«, flüsterte er. »Ich weine ja gar nicht«, schwindelte sie und lächelte ihn tapfer an.
Er zögerte, und für einen Moment glaubte sie schon, dass er sie küssen würde.
In diesem Augenblick ertönte Harts Stimme von unten: »Euch beide kann man aber auch keine Sekunde aus den Augen lassen. Es ist wohl besser, wenn ich Francesca in meine Kutsche begleite. Ich werde dann mit dir ins Stadtzentrum fahren, Rick.«
Bragg trat von ihr weg. »Das ist eine gute Idee«, sagte er.
Harts eleganter Brougham war im Inneren sogar noch luxuriöser ausgestattet, als es sein prachtvolles Äußeres vermuten ließ. Francesca versank in dem feudalen roten Lederpolster und legte sich eine Pelzdecke über die Beine, die in der Ecke lag. Sie wusste, dass sie sich eigentlich hätte freuen sollen, da sie Randalls Mörder gefunden hatten, aber stattdessen ging ihr Braggs Gesichtsausdruck nicht mehr aus dem Kopf, als sie sich auf der Treppe abgewandt hatte und nach unten gegangen war. Er quält sich offenbar ebenso wie ich, dachte Francesca bedrückt.
Sie schloss die Augen, und mit einem Mal war es ihr, als hörte sie Anthony erneut klar und deutlich sagen: »Ich war's nicht«. Erschrocken riss sie die Augen wieder auf.
Bei diesen Worten hatte er sie mit einem harten Blick direkt angeschaut. Nun, auf jeden Fall hatte er Paul Randall erpresst, ob mit oder ohne Georgettes Hilfe.
Ein weiteres Bild aus ihrer Erinnerung überfiel sie. »Wir sind unschuldig«, hatte Georgette gesagt und Fran dabei ebenso direkt in die Augen gesehen.
Francesca setzte sich grimmig auf. Trotz ihres Kummers war es ihr nicht möglich, die Gedanken an die beiden einfach beiseite zu schieben. Und was war davon zu halten, dass Bill Randall nach dem Mord in Georgettes Haus gewesen war? Francesca glaubte nicht, dass sie sich getäuscht hatte, sie hatte ihn dort gesehen, davon war sie überzeugt. Bill war im Haus gewesen und hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass sein Vater tot war. Was bedeutete, dass er den Mörder vermutlich kannte. Doch Francesca konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Anthony und Bill Partner waren; es erschien ihr einfach undenkbar.
Zudem musste ein Erpresser doch nicht notgedrungen auch ein kaltblütiger Mörder sein.
Nein, irgendetwas stimmte bei der Sache nicht.
Ich bin eine unmoralische Frau – eine Hure! Wem werden sie wohl die Schuld geben? Also ich glaube ja, dass es seine Frau war.
Francesca erstarrte. Warum hatte sie Georgettes Worten nur nicht mehr Beachtung geschenkt, als diese Henrietta bezichtigte, ihren Mann getötet zu haben? Es hatte kein Hass aus ihrer Stimme geklungen. Sie hatte Angst gehabt, das wohl, aber sie hatte voller Überzeugung gesprochen. Was hatte sie sonst noch gesagt?
Die beiden haben sich seit Jahren gehasst!
Plötzlich fiel Francesca ein, dass Henrietta ihre Ohnmacht bei der Beerdigung nur vorgetäuscht hatte. Auch ihre Tränen waren nicht echt gewesen, denn als Francesca Henriettas Taschentuch aufgehoben hatte, war es knochentrocken gewesen. Francescas Puls raste vor Aufregung. Es sah ganz so aus, als hätten sie den Falschen erwischt. Wer hatte ein besseres Motiv als die betrogene Ehefrau? Außerdem wäre das auch eine Erklärung für Bills Verhalten.
Francesca klopfte gegen die Trennscheibe, und als diese von dem Kutscher geöffnet wurde, sagte sie: »Fahren Sie mich bitte zur East Fifty-seventh Street. Die Nummer lautet neunundachtzig. Ich muss dort nur kurz etwas erledigen.«
»Wie Sie wünschen, Miss«, erwiderte der Kutscher.
Es war erst halb neun, aber das Dienstmädchen teilte Francesca mit, dass die Randalls zu dieser Stunde keine Besucher mehr empfingen. Mr Randall habe erst am nächsten Mittag für sie Zeit. Francesca hörte kaum, was das Mädchen sagte, denn von der Stelle in der Diele aus, wo sie stand, konnte sie die Tür zum Salon sehen, die einen Spaltbreit offen stand. Im Salon war das Licht eingeschaltet, außerdem hörte sie eine weibliche Stimme, die sie eindeutig als Marys erkannte.
Francesca lächelte das Dienstmädchen an und wandte sich zum Gehen. »Dann werde ich morgen Mittag wiederkommen«, sagte sie. Als die Tür hinter ihr zufiel, blieb Francesca auf dem Treppenabsatz stehen. Sie konnte genau hören, dass kein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde – aber es war ja auch noch viel zu früh am Abend.
Francesca zählte langsam bis hundert. Dann schob sie ihre aufkommenden Schuldgefühle beiseite, drehte den Türknauf herum und schlüpfte leise zurück in die Diele.
Ich werde immer geübter im unbefugten Betreten von Häusern, dachte sie. Erst eine gute Woche zuvor hatte sie das Haus der Burtons auf die gleiche gesetzwidrige Weise betreten. Beim zweiten Mal fiel es ihr nun schon viel leichter, obwohl sie natürlich eine gewisse Angst verspürte. Wenn Henrietta wirklich eine Mörderin war, so konnte Francesca leicht in Gefahr geraten, wenn man sie erwischte.
Die Tür zum Salon stand immer noch offen, und jetzt erkannte Francesca auch Bills Stimme, konnte aber nicht verstehen, was er sagte. Mit einem mulmigen Gefühl schlich sie auf Zehenspitzen den Flur entlang und drückte sich neben der Salontür dicht an die Wand. Nun konnte sie sie klar und deutlich verstehen, was in dem Raum gesprochen wurde.
»Findest du nicht, dass du schon ein Glas Sherry zu viel getrunken hast?«, fragte Bill gerade.
»Nein, das finde ich ganz und gar nicht. Es ist ein furchtbarer Tag gewesen«, gab Mary mit scharfer Stimme zurück. »Von jetzt an werden alle Tage furchtbar sein.«
»Sie dürften für mich ein wenig schlimmer werden als für dich«, sagte Bill finster. »Immerhin weiß ich nicht, ob ich mir die Studiengebühren noch leisten kann.«
Eine bedrückte Stille folgte.
Francesca vernahm ihre eigenen Atemzüge, die angestrengt und gequält klangen. Sie musste unbedingt versuchen, sich zu entspannen.
»Zumindest müssen wir jetzt nicht mehr länger mit dieser Heuchelei leben«, hörte sie Mary voller Verbitterung sagen. »Aber die Frage ist, wovon wir überhaupt leben sollen. Er hat uns nichts hinterlassen. Ich bin sein Erbe und besitze nicht einen einzigen Penny.« Bill war offenbar wütend. »Du wirst wenigstens irgendwann einmal heiraten – wenn du dich endlich dazu überwinden kannst.«
»Ich werde niemals heiraten«, erwiderte Mary mit Nachdruck. »Du weißt doch, wie ich darüber denke. Jetzt mehr als jemals zuvor. Wie konnte uns Papa nur so etwas antun?«
»Ich verstehe nicht ganz, dass du all die Jahre die Augen vor der Wahrheit verschlossen hast. Schließlich wissen wir seit zehn Jahren von Calder Hart.«
»Aber das war doch, bevor er Mama kennen gelernt hat! Er hat es mir ganz genau erklärt, und ich konnte das verstehen. Andererseits« – sie verstummte für einen Moment – »war ich ja auch erst acht Jahre alt, als ich von diesem Bastard erfahren habe. Papa hätte mir erklären können, dass er vom Mond zu uns gekommen ist, und ich hätte ihm geglaubt.« Ihre Stimme klang tränenerstickt. »Aber du hättest mir von dieser Hure erzählen müssen! Ich bin immer die Letzte, die in diesem Haus etwas erfährt. «
»Arme Mary.«
Sie schwiegen. Plötzlich beschlich Francesca ein unbehagliches Gefühl. Waren das etwa Schritte, die sie da hörte? Sie spürte, wie sie zitterte. Kein Zweifel, da kam jemand die Treppe herunter!
Leider gab es in dem Flur keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ob es Henrietta war, die dort herunterkam, oder ein Dienstbote? Der Flur war nur schwach beleuchtet, aber falls derjenige in den Salon gehen wollte, saß Francesca wie eine Maus in der Falle. Bei diesem Gedanken brach ihr am ganzen Körper der Schweiß aus.
»Ich werde Miss de Labouche vor Gericht bringen. Ich habe vor, ihr das Haus aus ihren Fängen zu reißen«, hörte sie Bill mit einem Mal sagen. »Wie konnte Vater es nur ihr hinterlassen!«
Francesca wagte kaum noch zu atmen. Die Person war im Erdgeschoss angelangt, und Francesca sah, dass sie sich auf die Haustür zubewegte. Einen Augenblick später öffnete sie eine Seitentür und verschwand in ein anderes Zimmer.
Francesca wollte gerade erleichtert seufzen, als sie hörte, wie Mary mit gehässigem Tonfall sagte: »Gut! Und in der Zwischenzeit werden sie Hart aufknüpfen.« Sie lachte, aber ihr Lachen verwandelte sich rasch in ein Schluchzen. »Er hat kein Alibi, und er gibt auch noch ganz freimütig zu, dass er Vater gehasst hat. Gott, wenn er ihn doch nur wirklich umgebracht hätte!« Sie begann zu weinen.
Francesca fuhr zusammen. Was war das eben gewesen? Offenbar wussten die Randalls, dass Hart unschuldig war – was bedeutete, dass sie die Identität des wirklichen Mörders kannten.
»Mary! Das reicht. Ich werde zu Bett gehen«, sagte Bill unvermittelt.
Francesca wurde klar, dass sie entweder umgehend das Haus verlassen oder aber das tun musste, was sie ursprünglich vorgehabt hatte, nämlich, Henrietta zu befragen. Doch ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. Sie schlich langsam an der Wand entlang vom Salon fort, wobei sie schreckliche Angst hatte, ein Geräusch zu verursachen und ertappt zu werden.
Als sie die Treppe erreicht hatte, hämmerte ihr Herz, und sie spürte, dass sich zwischen ihren Brüsten Schweißperlen sammelten. Sie wagte kaum, richtig Luft zu holen, als sie rasch die Stufen hinaufeilte.
Im ersten Stock brannte nur ein einziges Licht, doch die Tür zu Henriettas Zimmer stand weit auf, und Francesca konnte sehen, dass die Witwe mit einem Füllhalter in der Hand an ihrem Schreibtisch saß und einen Brief schrieb. Während Francesca sie heimlich beobachtete, stellte sie fest, dass Henrietta absolut harmlos wirkte. Mollig, gut gekleidet, mit einem zurückhaltenden Wesen. Sie kam ihr gar nicht wie eine Mörderin vor.
Francesca betrat das Zimmer.
»Mary?« Henrietta drehte sich um und riss vor Schreck die Augen auf, als sie Francesca sah.
Francesca schloss die Tür hinter sich. »Es tut mir Leid, dass ich Sie belästige, Mrs Randall, aber ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen.«
Es dauerte einen Moment, ehe Henrietta ihre Stimme wiederfand. »Wie sind Sie hier heraufgekommen? Wer hat Sie hereingelassen?« Sie stand nicht auf.
»Ich möchte mich für mein Eindringen entschuldigen«, erwiderte Francesca und betrachtete die Frau forschend. Ihre Augen waren nicht verweint, und sie kam Francesca auch sonst nicht gramgebeugt vor. »Ihr Sohn hat heute eine wunderbare Lobrede auf Ihren Mann gehalten.«
»Ich glaube, Sie sollten besser gehen«, sagte Henrietta.
»Ein unschuldiger Mann ist für den Mord an Ihrem Ehemann verhaftet worden, Mrs Randall.«
Henrietta zog nicht einmal eine Augenbraue in die Höhe. »Und was habe ich damit zu tun?«
»Ist Ihnen das denn völlig egal?«
Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Natürlich nicht.«
Francesca wartete ab.
»Ich will nur, dass der Mörder meines Mannes seine gerechte Strafe erhält.«
Francesca seufzte. Offenbar hatte es in dieser Ehe keine Liebe gegeben. »Es tut mir Leid, dass Sie den größten Teil Ihres Lebens mit einem Mann verbracht haben, aus dem Sie sich nichts gemacht haben, Henrietta.«
Henrietta starrte sie an. »Ich habe Paul geliebt.«
»Haben Sie das?«
»Aber natürlich.«
»Aber er hat viele Jahre lang Georgette de Labouche ausgehalten, eine schöne Frau, jünger als Sie. Er hat sie pünktlich wie ein Uhrwerk jeden Dienstag- und Freitagabend besucht. Er hat ihr Schmuck und Pelze gekauft. Und Sie haben davon gewusst.«
Henrietta sah sie mit einem angespannten Gesichtsausdruck an. »Ich bin keine Närrin«, sagte sie. »Natürlich habe ich davon gewusst.«
»Wie lange schon?«
»Seit einer Ewigkeit. Paul ist mir keinen Tag in seinem Leben treu gewesen. Miss de Labouche ist nicht die Erste und wäre auch nicht die Letzte gewesen, wenn er noch leben würde«, sagte sie ruhig, obwohl sie so angespannt wirkte. »Warum sind Sie hier, Miss Cahill?«
Francesca befeuchtete ihre Lippen. »Sind Sie Ihrem Mann am Freitagabend zum Haus seiner Mätresse gefolgt und haben ihn in den Hinterkopf geschossen?«, fragte sie.
Henrietta starrte sie entgeistert an.
»Sag nichts, Mutter!«, ertönte plötzlich Bills Stimme hinter Francesca.
Sie fuhr herum und sah Bill und Mary an der Tür stehen, die das Zimmer unbemerkt betreten hatten. Bill war wütend, während Marys Gesicht kalkweiß und wie erstarrt war vor Angst.
Henrietta, die inzwischen aufgestanden war, wurde ebenfalls kreidebleich und blickte ihre Kinder an. »Ja«, sagte sie. »Es stimmt. Ich habe über die Jahre eine Abneigung gegen meinen Mann entwickelt. Ich war das Ganze einfach leid. An jenem Morgen haben wir uns über Geld gestritten, und ich bin ihm gefolgt und habe ihn erschossen.«
»Mutter!«, rief Bill.
Mary stand mit zusammengepressten Lippen stumm und bleich da.
Francesca sah Henrietta an, dass sie log.
»Es tut mir Leid, Miss Cahill, aber Sie sind zu weit gegangen«, sagte Bill.
Francesca blickte zu ihm hinüber und begegnete seinen kalten grauen Augen. Und dann erst sah sie die Pistole, die er in der Hand hielt. Er wollte sie erschießen!
Doch bevor sie reagieren konnte, hob er die Waffe und schlug ihr mit dem Kolben auf den Kopf.
Francesca verspürte einen heftigen, stechenden Schmerz, und dann wurde plötzlich alles dunkel.